Henrietas Erlebnisse

Die Botschafterin unserer Buchkinder Idee heißt HENRIETA.

Sie ist ein laufendes Buch, das Arme und Beine hat.
Ihr Bauch besteht aus vielen tausend Buchseiten.
Sie weiß alles. Sie ist ein Lexikon.

Wenn sie in ihren Seiten blättert und ein Wort auf einer Seite antippt, kann sie sofort damit was anfangen. Es entstehen Geschichten und Abenteuer.

Sie wohnt in Pegau im Kulturladen in der Breitstraße 13 im Bundesland Sachsen.

Als erstes führt sie uns in eine märchenhafte Entstehungsgeschichte der Braunkohleregion zwischen Pegau, Profen und Hohenmölsen. Das Märchen haben die Pegauer Buchkinder während des freien Werkstattangebotes im Kulturladen in Pegau entwickelt und illustriert. Sie waren von der Idee, dass ein Buch reisen kann, so fasziniert, dass sie es HENRIETA nannten und in den unterschiedlichsten Rollen und Positionen zeichneten. Daraus entstand das Märchen:

Eine Reise durch die Kohlegeschichte

Heute sind keine Kinder im Laden und niemand erfindet eine Geschichte. Gelangweilt blättert Henrieta in ihren Buchseiten herum. Plötzlich bleiben ihre Finger bei dem Wort REISE hängen.

„Oh, ja!, ruft sie und springt auf. „Ich mache eine Reise!“

Sie geht zur Tür und gibt den Öffnungscode ein. Die Tür geht auf, und sie schlüpft durch.
Draußen auf der Straße braust der Feierabendverkehr und die Autos stinken furchtbar nach Abgas.

„Bloß weg hier“, denkt sie und schlägt das Wort ZEITMASCHINE auf.
„Uhh, wo soll ich hin?“

Ihr Bücherbauch versteht nur U. Eine Uhr tickt, und es rumpelt und es schüttelt sie. Vor Schreck schließt sie die Augen.

Als sie sie wieder öffnet, steht sie mitten in einer Horde fleischfressender Pflanzen. Schon streckt eine ihre Tentakel nach ihr aus, schnappt sie und stopft sie in ihr Maul. Aber Henrieta ist nicht aus Fleisch. Sie ist ein Wesen aus Papier und Ideen. Das mag die Pflanze nicht, würgt und spuckt sie im hohen Bogen wieder aus.

Henrieta landet auf dem speckigen Hals eines Urviehs. Sie ist in der URZEIT angekommen. Ihre Seiten zittern. Sie sitzt auf einem Tyrannosaurus Rex. Der hört nichts und spürt nichts, denn sie sitzt genau auf der tauben Stelle zwischen seinem Kopf- und seinem Schwanzhirn. Er ist gerade dabei, eine der fleischfressenden Pflanzen zu fressen.

Henrieta schaut sich um. Grün über grün ist der Urwald, voller meterhoher Farne und Nadelbäume. Durch die Luft segeln Flugechsen.

Der Saurier trägt sie aus dem Wald hinaus auf eine weite Steppe. Hier grast eine ganze Herde Brachiosaurier. Henrieta kann sich nicht satt sehen und genießt ihren wandernden Aussichtsturm.

Doch plötzlich wird es stockdunkel. Der Saurier brüllt und beginnt zu rennen. Sie rutscht runter und landet in einem Farnkraut Busch.

Hastig blättert sie in ihren Seiten und sucht das Wort RAKETE.
Sie hat es. Eine Rakete steht vor ihr, aber sie kann nicht einsteigen. Die Tür geht nicht auf.
Ihre Zeitmaschine ist so programmiert, dass sie immer eine Stunde an einem Ort bleiben muss. Sie schaut in den Himmel, und da sieht sie es:

Ein Meteor mit feurigem Schweif rast direkt auf die Erde zu.

Fieberhaft tippt sie nochmal auf die Seite mit dem R, und tatsächlich, die Tür der Rakete öffnet sich. Doch als sie einsteigen will, kommt der T-Rex angerannt. Vor Schreck kann Henrieta sich nicht bewegen. Aber er will ihr nichts tun. Er kniet vor ihr nieder. „Bitte, bitte“, bettelt er, „nimm mich mit.“
„Nein, das geht nicht“, antwortet sie. „du passt nicht in die Neuzeit. Du würdest mit deinen riesigen Pfoten die ganze Stadt zertrampeln, und Pegau soll schließlich Pegau bleiben.“

Sie schließt die Tür und die Rakete hebt vom Boden ab. Gerade rechtzeitig! Denn als sie aus dem Fenster schaut, sieht sie, wie der riesige Meteor auf die Erde prallt. Sie gibt den Code für einen Rundflug ein.

Ihr Heimatplanet ist eisbedeckt. Kein Grün ist mehr zu sehen. Und wahrscheinlich sind alle Tiere und Pflanzen tot. Sie muss an den armen Saurier denken und weint.
Ohne ein Gefühl für Zeit und Raum rast sie durch viele Millionen Jahre.

Die Verdunkelung der Welt durch den abgestürzten Meteor hatte eine Klimakatastrophe zur Folge. Alle großen Tiere und Pflanzen sind gestorben, verwest und immer tiefer in die Erde eingesunken. Auf ihnen hat meterdicke Erde eine Schutzschicht angehäuft. Die ist Megatonnen schwer. Und hat fast alle Wesen der Urzeit zu Kohle gepresst. Nur kleine Säugetiere Insekten, Moose und Flechten haben in Erdspalten und Höhlen überlebt.

Traurig und ziellos blättert sie in ihren Buchseiten. Ihr Finger bleibt bei einem K hängen, und sie landet am Rand einer eigenartigen Stadt.
Vor ihr stehen Häuser, die haben Gesichter und Hände und können winken.

Überall begegnet sie Geschöpfen, die wie Menschen aussehen, aber ganz aus Kohle sind. Manche werfen die Arme in die Luft. Alle reden durcheinander.  Was sie reden, versteht sie nicht. Aber sie spürt, dass sie Angst haben.

Sie geht weiter zwischen den Häusern entlang. Plötzlich stößt ihr Fuß an einen Stein. Sie hebt ihn auf und schaut ihn an. Er sieht anders aus, als andere Steine. Er ist warm. Und jetzt hört sie sogar eine Stimme. Der Stein spricht:

„Ich komme aus dem Weltraum. Ich bin ein Stück von dem Meteor, vor dem du geflohen bist. Ich weiß, ich habe der Erde Schlimmes angetan. Jetzt möchte ich das gerne wieder gut machen. Wer mich festhält, kann alle Sprachen der Welt sprechen und verstehen. Nimm mich mit.“

Sie hält ihn fest.

Gerade tritt eine Familie aus einer Haustür. Es ist ein Mann mit schwarzer Hautfarbe wie die anderen Menschen, aber die Frau hat weiße Haut und das kleine Mädchen, das dabei ist, hat zu einer Hälfte weiße und zur anderen Hälfte schwarze Haut. Sie gehen dicht an Henrieta vorbei. Sie reden aufgeregt miteinander. Henrieta hält den Stein in der Hand und versteht, was sie sagen:

„Morgen sind sie da. Sie werden unser Dorf weg graben. Was sollen wir dann essen? Wo sollen wir wohnen?“

Jetzt hat das Mädchen Henrieta entdeckt. Und geht auf sie zu.

„Wer bist du denn?“
„Ich bin Henrieta.“
„Du siehst ja aus wie ein Buch. Und warum hast du Beine?“
„Ich hab Beine um zu laufen. Ich bin ein laufendes Buch.“
„Unsere Häuser haben Arme, mit denen sie uns beschützen. Aber sie können nicht laufen.“

Das Mädchen beginnt zu weinen.

„Was ist denn los bei euch? Warum seid ihr alle so aufgeregt?“, fragt Henrieta.

Der Mann schaut sie ganz ernst an. Dann beginnt er zu erzählen.
„Wir sind Kohlemenschen Wir sind aus Kohle und wir essen Kohle. Aber nur drei Stück am Tag. Wir wohnen schon viele tausend Jahre hier. Die Kohle würde auch noch viele tausend Jahre reichen. Unsere Häuser beschützen uns, und es war alles gut, bis eine Familie nicht mehr zufrieden war. Sie haben viele Kinder bekommen und immer mehr Kohle gegessen. Das wäre nicht schlimm gewesen.
Aber sie hatten immer Hunger und haben den Kohleberg vor dem Dorf ganz weggefressen und dann noch die Kohle aus unseren Häusern geklaut. Bald hatten wir nur noch ganz wenig Kohle. Meine Frau war schwanger und wurde immer blasser. Unser Kind und viele andere sind schwarzweiß auf die Welt gekommen. Sie haben aber nicht nur alle Kohle rings um unser Dorf abgegraben und riesige Löcher in die Erde gerissen, sie haben auch noch die Kohle in die ganze Welt verkauft nach Paris, nach Kairo und in die Wüste. Mit dem Geld haben sie sich riesige Grabmaschinen angeschafft und Löcher in den Boden gesprengt. Jetzt wollen sie unser ganzes Dorf abreißen, weil im Boden nicht nur Kohle liegt, sondern ganz tief unten gibt es Diamanten.“

Das Mädchen öffnet seine Hand und zeigt einen glitzernden und funkelnden Diamanten.

Während ihr Vater erzählt, haben sich immer mehr Kohlemenschen mit ihren Kindern zu ihnen gesellt. Manche Kohlemenschen sind schwarz, manche weiß und viele Kinder sind schwarz-weiß.

Henrieta hört ruhig zu. Aber im Innern ist sie aufgewühlt. Ein großes W dehnt sich in ihr aus. Sie schließt die Augen.

„WAFFEN?“, denkt sie. „Nein, die machen alles kaputt. Kämpfen ist keine Lösung. 
W wie WUT?
Die darf sein, ist aber keine Lösung.“

Ein E erscheint, wie ERDE und ESSEN.

„Das ist nicht schlecht, denkt sie.“
„Anstatt die Erde weg zu graben, kann man auch etwas zum Essen anbauen. Das W steht auch für WASSER und WISSEN und verbindet sich mit dem E für Erkenntnis.“

Kaum denkt Henrieta das, pflanzt sich ein buschiger Blaubeerstrauch mitten auf die Straße.

Niemand hat bemerkt, dass die Kinder der Familie Kohlenfresser sich angeschlichen haben. Alle Kinder rennen zusammen zu dem Busch und stopfen sich die süßen Blaubeeren in die Münder. Der Busch wird nicht leer, auch als die Bäuche der Kinder voll sind.

Familie Kohlenfresser ist auch angekommen. Sie wollen ihre Kinder einpacken. Doch die sitzen mit den anderen Kindern um den Busch herum lachen und purzeln durcheinander.

Henrieta zieht noch schnell ein F für FANTASIE und FRIEDEN von einer Buchseite.

Die Erwachsenen sind sprachlos. Sie sehen sich an und geben sich die Hände. Sie werden die Kohle nicht weiter aufessen, sondern die Erde darüber bepflanzen, damit alle zusammen immer etwas zu essen haben.

Für Henrieta ist es jetzt Zeit für den Abschied. Sie geht zu den Kindern.
„Liebe Kohlekinder ich schenke euch diesen Stein“ – sie reicht dem Mädchen mit dem Diamanten den Meteoritenstein.

„Geht mit diesem Stein auf Reisen. Ihr werdet in allen Ländern alle Sprachen verstehen. Hört, was die Menschen erzählen, und macht eure eigenen Geschichten daraus. Ich gehe jetzt wieder nach Hause.“

„Danke, halt, geh noch nicht.“

Das Mädchen hält Henrietas Hand fest und drückt den Diamanten hinein.
„Oh, danke,“
Henriette schließt ihre Hand.

„Damit können wir jetzt in der ganzen Welt Buchkindergeschichten machen. Adieu, Bestimmt treffen wir uns wieder.“

Sie findet die Seite mit dem H für die Heimreise, und im Buchkinderladen in der Pegauer Breitstraße schreibt sie alles auf.

So entstand die Märchenreise durch die Geschichte der Kohle.